Organisationsentwicklung mit User Stories

Don't panic! USG is upcoming ...

Viele Menschen neigen dazu, Organisationen wie Häuser zu betrachten, nicht wie eine Heimat. Wenn erst einmal das Dach drauf und die Heizung drin ist, dann werden schon Menschen einziehen und das tun, was Menschen halt so tun. Wenn sie nicht das Richtige tun, dann muss man ihnen halt sagen, was richtig ist. Und dann wird nach diesem Richtigen, das nächste Falsche passieren. Der Erziehungsprozess dauert weiter an.

Und schon bleiben die Handwerker für immer auf der Baustelle. Der so schön gedachte Neubau wird zum unendlichen Krisenprojekt.
Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu errichten …

Tatsächlich sind Organisationen Systeme. Und genau so wie bei IT-Systemen gibt es in ihnen Funktionen, Akteure, Objekte und Zustände.
In der Software-Entwicklung gibt es seit einiger Zeit das User Story-Format. Es kommt ganz unscheinbar daher, entwickelt aber eine enorme Kraft, wenn es richtig angewandt wird.

Es ist das Kung Fu der Systementwicklung.

/konkrete Grundlagen

Bei einem Kunden bin ich beauftragt, die Transformation der Organisation zu begleiten. Das Ziel heisst “Agilität”.

Das Unternehmen ist eine Tochtergesellschaft einer Bank. Der Unternehmenszweck ist die massenmäßige Verarbeitung von Dokumentvorgängen der Konzern-Mutter.
Dazu gehören sowohl papierhafte Vorgänge als auch bereits digitalisierte. Am Ende wird der Vorgang um aktualisierte und zusätzliche Daten angereichert und der Datensatz auf diese Weise veredelt.
Die Auslieferung erfolgt ausschließlich digital.

Die Verarbeitung ist zwar geistige Arbeit, sie ist aber gut beschreibbar und wiederkehrend. Deshalb können die Grundsätze der industriellen Massenproduktion angewandt werden.
Lean Management findet bereits statt – heisst dort aber etwas anders. Die Produktionsabläufe orientieren sich bereits an Arbeitsflüssen die mit Workboards und Kanban-Prinzipien abgewickelt werden.

Das Vorgehen ist bereits so verinnerlicht, dass eine Teamleiterin kürzlich bei der Organisation der Gulasch-Kanone vor dem Haus kribbelig wurde.
Sie erkannte darin eine Taktstrasse und verspürte das Bedürfnis Arbeitsvorräte zu bestimmen und Materialengpässe aufzudecken.
Es kam, wie sie intuitiv verspürt hatte: die Portionen reichten nur noch bis kurz vor ihre Schlangenposition.
Nach fast 30 Minuten Wartezeit in der Schlange bei etwa 5°C und bedecktem Himmel ging sie leer aus und musste sich über den nahegelegenen Discounter mit Lebensmitteln versorgen.

/worum geht es?

Vielen Menschen fällt es schwer, Systeme in ihrer Natur zu erkennen. Sie erfassen die äußere Manifestation (“Hülle”) und übersehen das Wesen, die Wirkmechanismen im Innern. Diese Menschen halten das Erzeugen von Software für etwas gänzlich anderes als das Austeilen von Linsensuppe. Das ist nachvollziehbar und somit verstehbar. Solange sich der Zusammenhang nicht ändert, sind Menschen mit solcherart unterentwickelten kognitiven Fähigkeiten durchaus integrierbar. Auch sie können einen wichtigen Anteil am System haben.

Schwierig wird es immer dann, wenn eine Veränderung ansteht. Entweder gelingt es, Prinzipien aus anderen Zusammenhängen zu abstrahieren und im eigenen Umfeld einzusetzen oder aber man probiert ein Werkzeug nach dem nächsten, bis sich irgendwann Ermüdung oder Zufriedenheit einstellt.

In meiner Familie wurde sehr oft eine Geschichte erzählt. Wie wahr sie ist, ist mittlerweile unerheblich.
Während der frühen Besatzungszeit in den Ostgebieten fuhr eine Verwandte mit einem sehr alten und klapprigen Fahrad, schwer beladen zurück vom Markt.
Sie machte dabei eine gute Figur und umschiffte geschickt Schlaglöcher und andere Hindernisse des Jahres 1946.
Das sah ein Rotarmist, der sich an einem nagelneuen Fahrrad versuchte. Er stürzte andauernd und darüber war er zunehmend erbost.
Als faktischer Machthaber zwang er die geschickt fahrende Verwandte, ihm das Fahrrad zu überlassen mit dem sie so scheinbar mühelos fuhr.

Sie nutze die Gelegenheit, griff das neue Fahrrad und verschwand schnell. Außer Reichweite drehte sie sich noch einmal um und sah wie der Rotarmist unvererändert auf die Straße stürzte.

Diese Geschichte war für mich als Kind bereits lehrreich und prägend.
Sie war so anschaulich und erhellend, dass sie über die Zweige der Familie und wie in meinem Fall sogar über die Generationen hinweg weitergegeben wurde.
Wer versteht, solche Geschichten in den Zusammenhang einzuordnen, wird viel Freude und Erkenntnis aus solchen kleinen Begebenheiten ziehen.

Die Wirkung von User Stories kann genau so sein. Sie sind nicht nur Umformatierungen von Arbeitsaufträgen. Sie sind nicht nur das Herunterbeten von “Anforderungen”.
Sie kann zu Kung Fu im Meistergrad werden.

Wirklich?

Ich bin sehr strikt, was die Bestandteile “I want to” und “to gain” des User Story-Formats angeht. Viele übersetzen den mittleren Teil mit “Wunsch” – das ist nicht falsch, aber unpräzise.
Dem Wesen nach geht es darum, in einer Rolle eine Handlung an einem Objekt auszuführen, um damit ein Ziel zu erreichen oder zumindest mit einem weiteren Prozess-Schritt darauf hinzuarbeiten.

Ich will also nicht nur einen Zustand – “irgendwie” – erreicht haben. Ich will in meiner systemischen Rolle eine Handlung ausführen, um damit eine zielführende Wirkung zu erreichen.
Das ist beim Anlegen eines Nutzerprofils auf einer Webseite nicht anders als bei dem Austeilen von Erbsensuppe.

So?

In meiner Rolle als Kassierer*in möchte ich jederzeit genug Wechselgeld in der Kasse haben

Oder so?

In meiner Rolle als Essensausgeber möchte ich so viele Portionen austeilen bis alle satt und zufrieden sind.

/praktische Anwendung

Bei besagtem Kunden nun entstand der Wunsch, das “Morning Meeting” ansprechender zu gestalten.
Der Termin ist so etwas wie das Daily der Teamleiter. Mit der Zeit flaute der Inhalt ab.
Zuletzt war es ein Vorlesen von Statuszahlen.

Im Unternehmen gibt es eine Funktion, die heißt OLP – Operative Leitung Produktion.
Es ist eine Funktion innerhalb der Geschäftleitung dieses Unternehmens.
Eine Person in dieser Rolle ist meine Auftraggeberin und direkte Ansprechpartnerin im Unternehmen.

Ihr platzte kürzlich der Kragen.

Die Zahlen kann ich auch selbst ablesen.
Wo ist der Mehrwert?

Daraus entstand der Auftrag, dieses Treffen besser zu gestalten.
Teamleiter fanden sich zusammen und besprachen zunächst die Formulierung des Auftrags im User Story Format.
Die angesetzten 90 Minuten reichten bei weitem nicht aus.

Das fing schon bei der Rolle an. Hat Sie jetzt den Auftrag als OLP gestellt? Hat sie einen Impuls gesandt und die Mitarbeiter adressiert?
Im darauffolgenden 2h-Termin mit der OLP und den Agility Mistresses ging es weiter.

Die Story war so als es zum Heureka-Moment kam:

In meiner Rolle als OLP möchte ich, dass das Morning Meeting einen Mehrwert erzeugt.

Ich:

Wie soll denn das arme Morning Meeting diesen Mehrwert herbeiführen?
Welche Handlung bringen Sie als OLP ein, um dieses Ziel zu erreichen?

Sie:

Oh. OLP ist natürlich falsch.

Innerhalb von wenigen Sekunden war die Story diese

In meiner Rolle als
Teilnehmer des Morning Meetings

möchte ich
Beiträge leisten

um
einen Mehrwert für die Organisation zu leisten.

Selbes Format, vollkommen andere Wirkung.
Anstatt, dass nun der Mehrwert für die OLP im Vordergrund steht, werden Werte für die Organsiation – für die Zusammenarbeit – geschaffen.
Anstatt, dass die altbekannte pyramidale Struktur weitergeführt wird, liegen Verantwortung und Beurteilung nun ganz anders.
Plötzlich ist Prozess-Empathie gefragt. Was brauchen denn die anderen, was nur ich ihnen liefern kann?

Und schon ist ein wertschätzendes Miteinander keine leblose Floskel mehr.

/Erkenntniskern

Für die Nachhaltigkeit der Veränderung ist es wichtig, die User Story als Aktivität zu formulieren – nicht als Zielzustand.

/worin besteht “Wert”?

Es sind die kleinen, vermeintlich unscheinbaren Änderungen, die große Wirkungen erzielen können.

  • Was, wenn mein Beitrag einen Wert für andere darstellt?
  • Was, wenn ein Wert vom Empfänger bestimmt wird?
  • Was, wenn wir unsere Kriterien zur Wertermittlung miteinander teilen?

Wenn das geklärt ist, sind Richtlinien plötzlich keine nervtötenden Einschränkungen mehr.
Es sind transparent gemachte Hilfsmittel, um schnell eine gemeinsame Basis bestimmen zu können.

/Zusammenfassung

Organisationen sind genau so Systeme wie IT-Umgebungen. Ein Werkzeug zur Gestaltung des einen, kann sehr wohl zur Gestaltung des anderen verwandt werden …

Wenn

  • Übereinstimmung besteht und daher Vergleichbarkeit erreicht werden kann
  • Das Prinzip und das methodische Werkzeug als Komponenten des Zusammenhangs identifiziert wurden.
  • Die Anwendung der Methode sicher und unabhängig vom gegebenen Umfeld beherrscht wird – Transferfähigkeit vs. “Cargo Cult”.

/Lerne wie ein Mensch!

Am Anfang sollte der Blick weit und der Geist geöffnet sein.
Zunächst hilft es, etwas als Ganzes zu erlernen. Situation, Methode und Zielsetzung werden als Einheit wahrgenommen und in Verbindung erlernt.

Danach hilft es, einzelne Bestandteile bewusst abzuwandeln. Das ist das wissenschaftliche Vorgehen “ceteris paribus”.
Nicht alles auf ein Mal ändern. Was ist konstant, was ist variant?

Wenn man den unveränderlichen Wesenskern herausgearbeitet hat, in Umgang und Anwendung geübt ist, dann kann man Menschen überall und in jedem Zusammenhang zum Erfolg führen.

Segeln lernt man auf alten Schiffen

Es ist nur eine Frage von Zeit, Aufwand und Erforderlichkeit das zu tun.
Der Wille zur Tat entsteht aus der Verfügbarkeit des einen und der Erkenntnis des anderen.

/etc

Was auch immer ich sonst noch für beachtenswert halte, teile ich über Blogbeiträge hier und anderswo.
Den besten Überblick über alle Fragmente vermittelt mein twitter-Kanal.

/Inspiratoren (chronologisch)

  • Mein Vater
  • Meine Mutter
  • Meine Philosophie-Lehrerin in der Oberstufe
  • Mike Cohn
  • Ursula Simo
  • Gunter Dueck
  • Mix & Match meiner Kinder
  • Dagmar Terbeznik
  • Angelika Fichtner

/weiterführendes Material

  • The Grandmaster (Wong Kar-Wai)
  • USG – ein wirksames Hilfsmittel für das Formulieren von User Stories

/lebewohl

Lebe lang, in Frieden und Wohlstand.
Mögen sich alle Bedürfnisse in Realität auflösen.

/berühmteletzteworte

Das Leben verläuft in Kreisen. Manche sind größer, andere kleiner.
An Ihrem Ende findet sich kein Ende, sondern ein neuer Anfang.

Sprich zu denen, die es angeht und teile, was Dir wichtig ist.

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